Ein Aufsatz über das Nichtinvestieren

„Der Jet ist weg. Jetzt bleiben nur noch ein Haus, eine Yacht und ein Hubschrauber!“ 

So schilderte uns der Vorsitzende des führenden indischen Anzugherstellers seine Vorstellungen von guter Unternehmensführung in seinem 37-stöckigen Palast in Mumbai, der eigentlich dem börsennotierten Unternehmen gehört. Uns wurde klar, dass wir das Kapital unserer Kunden nicht guten Gewissens in dieses Unternehmen investieren können. Gleichzeitig war uns sehr bewusst, dass das Narrativ eines erfolgreichen Turnarounds des Unternehmens den Aktienkurs auf kurze Sicht um ein Vielfaches beflügeln könnte.

Es war das dritte Meeting mit dem Unternehmen innerhalb von sechs Monaten und zahlreiche Hinweise belegten, dass sich ein Kulturwandel (unsere bevorzugte Art von Turnaround) vollzog. Das Unternehmen hatte eine starke Marke in Indien und erzielte trotz jahrzehntelangen Missmanagements immer noch ein positives Wachstum und Gewinne. Zahlreiche neue CXOs1 waren in die Vorstandsetage geholt worden, in anderen Leitungsorganen gab es ebenfalls eine Erneuerung und nicht zum Kerngeschäft gehörende Geschäftsbereiche wurden verkauft. Der Vorsitzende selbst trieb diesen Wandel voran, nachdem er vor einigen Jahren endlich eine beherrschende Beteiligung erlangt hatte. Er versicherte uns, dass sein Hauptziel auf mittlere Sicht darin bestehe, „Wert zu schöpfen“, und dass seine Interessen vollkommen mit unseren als Minderheitsaktionären übereinstimmen würden. Auch die Bewertungen waren mit einem Verhältnis des Unternehmenswerts zum Umsatz von rund 1 eher bescheiden. Vieles von dem, was der Vorsitzende uns sagte und zeigte, gefiel uns, und dennoch …

Unseren Prozess diszipliniert zu verfolgen bedeutet bei Entscheidungen wie dieser, dass wir lieber auf Nummer sicher gehen. Seit unserem ersten Treffen ist der Aktienkurs um fast 100 % gestiegen und könnte um weitere 100 % anziehen, wenn wir mit unseren Schätzungen richtig liegen. Sollten sich unsere hartnäckigen Zweifel an der Unternehmensführung aber bewahrheiten, könnten wir in eine äußert unangenehme Situation kommen: unseren Kunden erklären zu müssen, dass wir die Qualität des Managements und der Unternehmenseigner trotz all der offensichtlichen Warnhinweise völlig falsch eingeschätzt haben. Wird der Kulturwandel und Turnaround in Unternehmen mit schlechter Unternehmensführung von den Gründern vorangetrieben, dann geschieht dies unserer Erfahrung nach meist aus Verzweiflung. Sobald es erste Anzeichen dafür gibt, dass der Druck auf das Unternehmen oder den Aktienkurs nachlässt, fallen die Eigentümer wieder in ihr altes Verhalten zurück. Kurzum: Die Katze lässt das Mausen nicht.

Es gibt viele ähnliche Fälle, in denen wir einen potenziellen Turnaround erkannt und eine Menge Arbeit (Meetings, Berichte, Teamdiskussionen) hineingesteckt haben, um am Ende dann doch nicht zu investieren. Zu den jüngsten Beispielen zählt eines der größten indischen Finanzunternehmen im Nichtbanken-Sektor, das auf Finanzierungen von gebrauchten Nutzfahrzeugen spezialisiert ist. Wir hatten in den vergangenen beiden Jahren fünf Meetings mit dem Management. Uns gefiel die ordentliche langfristige Erfolgsbilanz dank einer Wachstumsrate des Buchwerts je Aktie von rund 15 % pro Jahr.2 Auch die Bewertungen waren mit einem Kurs-Buchwert-Verhältnis (KBV) von etwa 1 attraktiv. Woran wir jedoch zweifelten, war die Übereinstimmung der Interessen. Die Eigentumsstruktur war sehr vielschichtig und wir konnten nicht erkennen, dass Minderheitsaktionäre Vorrang haben. Von dieser fehlenden Übereinstimmung der Interessen zeugten drei Versuche transformativer M&A-Transaktionen in den letzten zehn Jahren, von denen zwei missglückten. Bei der letzten Transaktion handelte es sich um eine Fusion mit einem anderen börsennotierten Konzern des Nichtbanken-Finanzsektors. Auch in diesem Fall gab es Anzeichen eines positiven Wandels und eine Erfolgsbilanz, die auf beträchtliche mittelfristige Aktionärsrenditen hindeutete. Trotzdem konnten wir den letzten Schritt nicht gehen.

Der indische Markt war zuletzt überschwänglich, was eine neue Welle an Börsengängen (IPOs) auslöste. Wie gewöhnlich hielten wir uns zurück, obwohl uns von Sellside-Brokern immer wieder vorgeworfen wird, dass wir Chancen nicht nutzen. Bei den jüngsten Börsengängen fiel uns ein großer indischer Hersteller von rezeptfreien Arzneimitteln/Generika durch sein rapides Wachstum und attraktive Kennzahlen auf. Wir hatten das Gefühl, dass das Management voraussichtlich ein gutes Gewinnwachstum erzielen könnte und die Bewertungen (KGV von 20 bis 25) angemessen waren. Dennoch überwog unser Unbehagen über mehrere Transaktionen mit nahestehenden Personen (zum Beispiel gehörte zu dem börsennotierten Unternehmen eine Hotelgesellschaft) und das bestehende Risiko, dass verschreibungspflichtige Arzneimittel mit unlauteren Methoden über indische Ärzte verkauft werden. Uns wurde sogar ein großer Anteil an dem Börsengang angeboten, was in Indien selten vorkommt! Wir entschieden uns jedoch dagegen und schauten dann zu, wie der Aktienkurs seit der Börsennotierung letzten Monat um mehr als 50 % in die Höhe schoss.

Dabei dachten wir jedoch auch an den Witz über den Ökonomen, der einen Hundertdollarschein auf dem Gehweg liegen ließ mit der Begründung, dass schon jemand anderes den Schein aufgehoben hätte, wenn er echt wäre. Wir verzichten nicht auf Gewinnchancen, weil wir als Analysten nicht genügend Vorstellungskraft haben oder zu rigide denken. Jahrzehntelange Erfahrung in diesen Angelegenheiten war unser Lehrmeister. Wir waren beispielsweise an den potenziellen Veränderungen bei einem führenden indischen TV-Sender interessiert, wo ein möglicher Wechsel bei der Mehrheitsbeteiligung und Aufsichtsratskontrolle zu einem multinationalen Großkonzern (den wir sehr schätzen und an dem wir mit unseren Asien-Strategien beteiligt sind) bevorstand. Dadurch wäre das Unternehmen trotz schlechter Unternehmensführung in der Vergangenheit investierbar geworden. Der Deal sah unter anderem vor, dass der CEO, der zur Gründerfamilie gehörte und das Unternehmen seit fast zwei Jahrzehnten leitete, die Führung behalten würde. Im Gespräch mit ihm wurde klar, dass sich an der Kapitalallokation nichts Wesentliches ändern würde. Doch die Kapitalallokation war der Hauptgrund, warum uns das Unternehmen bis dahin nicht interessiert hatte. Also entschieden wir uns dagegen, obwohl es auch gute Argumente für eine Investition gab. Jetzt haben wir erfahren, dass die Aufsichtsbehörden nicht bereit sind, der Familie der ursprünglichen Gründer einen Neustart zu gewähren, sodass der Deal geplatzt ist und das Unternehmen für ein Investment wieder nicht infrage kommt.

Wir sind der Meinung, dass nicht jedes Unternehmen seinen Preis hat. Von den meisten lässt man besser die Finger, um nachts ruhiger schlafen zu können.

Ein Investmentteam ist eigentlich nichts anderes als eine Kombination aus Prinzipien, einer Investmentphilosophie und einem Investmentprozess. Zusammen leiten sie uns wie ein Kompass durch die Märkte. Sobald man in diesen Bereichen Kompromisse eingeht, beginnt man abzudriften. Schon ein leichtes Abdriften ist einschneidend, denn die größten Fehler sind immer diejenigen, die am Anfang nicht wie Fehler aussehen. Mit kleinen Kompromissen geht es oft los, doch bis zum nächsten dauert es dann meist nicht lange. Und plötzlich ist man völlig vom Kurs abgekommen.

Wir versuchen stattdessen, eine vorsichtige Gratwanderung zwischen Disziplin und Flexibilität hinzubekommen. Grundsätzlich sind wir davon überzeugt, dass erfolgreiches Investieren sich auf lange Sicht nur selten durch brillante Momente und viel häufiger durch die bedachte und konsequente Einhaltung unserer Prinzipien, unseres Prozesses und unserer Philosophie definiert. Eigentlich einfach, aber keinesfalls leicht.

1 CXOs – C-Suite-Führungskräfte

2 Jährliche Wachstumsrate

Quelle: Unternehmensdaten aus den Jahresberichten der Unternehmen oder anderen entsprechenden Investorenberichten. Finanzkennzahlen und Bewertungen stammen von FactSet und Bloomberg. Stand 22. Juni 2023, sofern nichts anderes angegeben ist.  

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